Elden Ring ist kein Film, sondern ein Videospiel. Anfang des Jahres erschienen, ist es in der Gaming-Szene eingeschlagen wie eine Bombe: Kritikerinnen und Kritiker haben es mit Lobpreisungen überschüttet; in beinahe jeder Fachzeitschrift hat Elden Ring Bestwertungen erhalten. Als jemand, der gerne zockt und das seit Kindheitstagen, habe auch ich viele Stunden in dem Spiel versenkt. Und so viel vorweg: Es lohnt sich auch für alle Filmfans, einen näheren Blick auf Elden Ring zu werfen. Denn von dem Videospiel kann der aktuelle Film vieles lernen. Hier sind 3 Dinge, die Elden Ring großartig macht und die ich mir für den aktuellen Film wünsche. Und um den Artikel zu lesen, müsst ihr keine Videospielfans sein – versprochen.
Die wichtigsten Informationen auf einen Blick
Ich wünsche mir vom aktuellen Film, dass er wieder mehr mit dem konventionellen Storytelling experimentiert, mit nicht-linearen Geschichten und statischen Figuren. Dass er das Medium in seiner Gänze ausreizt und beispielsweise auch mal seine Bilder und Virtuosität in den Vordergrund stellt.
Ich wünsche mir vom aktuellen Film, dass er nicht alles erklärt und vorwegnimmt. Dass er seinem Publikum wieder mehr Spielraum zum Interpretieren, Rätseln und Philosophieren lässt.
Ich wünsche mir vom aktuellen Film, dass er nicht schon im Voraus alles verrät, was er zu bieten hat, sondern Überraschungen zurückhält. Und auch während des Sehens wünsche ich mir wieder mehr überrascht zu werden.
Was ist Elden Ring?
Elden Ring kommt von dem japanischen Videospielentwickler From Software, die in der Vergangenheit bereits mit Spielen wie der Dark Souls-Trilogie, Bloodborne oder Sekiro auf sich aufmerksam gemacht haben. Berüchtigt ist das Studio um den Chefentwickler Hidetaka Miyazaki für seine düsteren Welten, das einzigartige Kampfsystem, das Leveldesign, die kryptische Handlung und insbesondere den berüchtigten Schwierigkeitsgrad. Was Elden Ring zu seinen Vorgängern in erster Linie unterscheidet, ist die neue Open World, also die nun erstmals freibegehbare Spielwelt. Ebenfalls interessant ist, dass GRR Martin, der Autor der Game of Thrones-Bücher, an dem Spiel mitgewirkt hat.
Elden Ring ist ein Action-Rollenspiel, das in den Zwischenlanden spielt, einer wie erwähnt offenen und wieder mal düsteren Dark Fantasy Welt voller Gefahren, Überraschungen und Geheimnissen. Als sogenannter Befleckter sollt ihr die Fragmente des zerbrochenen und mächtigen Eldenrings suchen. Dafür müsst ihr eine Reihe an Halbgöttern töten und ihnen ihre „Großen Runen“ abnehmen. So weit so gut.
1. Geschichte und Charaktere anders denken - das Medium ausreizen
Die oben erwähnten Halbgötter, die ihr für die Hauptquest besiegen müsst, könnt ihr in einer beliebigen Reihenfolge angehen. Die Hintergrundgeschichte der Zwischenlande wird euch dabei in Zwischensequenzen oder rätselhaften Dialogzeilen erzählt. Eine lineare Geschichte gibt es in Elden Ring also nicht. Es gibt auch keine Figuren, die über sich selbst hinauswachsen, bzw. irgendeine „Charakterentwicklung“ durchmachen. Bei der Rezeption des Spiels wurden diese beiden Punkte, die Geschichte und die Figuren, von Spielerinnen und Spielern am häufigsten kritisiert – als zu langweilig und zu emotionslos. Hier liegt jedoch ein Irrtum vor: Die episodenhafte und nicht-lineare Erzählweise, genau wie die zwar interessanten, jedoch eher statischen Figuren sind eine geniale Designentscheidung. Dadurch nämlich erst rückt die größte Stärke des Spiels in den Vordergrund: die atemberaubende Open World. Noch nie hat ein Spiel auf so beeindruckende Weise gezeigt, was das Medium Videospiel alles kann. Das Ausmaß der Welt ist schlichtweg unglaublich: Schon die „normale“ Welt ist gigantisch groß und hat unterschiedliche Ebenen; „auf Augenhöhe“ habt ihr etwa Wälder, Wiesen oder Flüsse; auf einer oberen Ebene gibt es Berge oder Plateaus und auf der unteren Ebene beispielsweise Schluchten, Höhlen oder Mienenschächte. Überall stehen verschachtelte Ruinen, Schlösser oder Burgen mit zahlreichen Geheimgängen und weiteren unterschiedlichen Ebenen. Doch hier hört es nicht auf: Elden Ring hat unter der „normalen“ Welt eine komplette Unterwelt versteckt, die wiederum in weitere Unterwelten führt. All das ist vollgestopft mit Geheimnissen, Monstern und Überraschungen. Gepaart wird diese Welt mit einem atemberaubenden Art Design (siehe auch das Video unten). Egal, wo ich also hingehe, passiert etwas.
Ich wache nach meinem Tod plötzlich in einer düsteren, noch nie zuvor gesehenen Vulkanwelt auf, ich reite nichtsahnend durch die Pampa und werde auf einmal von einem Drachen angegriffen, ich versuche minutenlang den verstecken Turm hinabzusteigen, stürze immer wieder ab, um es dann doch zu schaffen und von einem fiesen Bossgegner erwartet zu werden – all das sind Momente, die ich nie vergessen werde. Elden Ring braucht gar keine lineare und durchgetaktete Geschichte und auch keine Figuren mit Tiefe, die irgendeine „Charakterentwicklung“ durchmachen. Die Geschichte und der Charakter sind die Momente, die ich erlebe.
Elden Rings Verweigerung, eine gängige Geschichte und gängige Charaktere zu erzählen und stattdessen das Medium anders auszureizen, ist erfrischend anders. Es muss einmal gesagt werden: Dass sich Filme heutzutage so sehr auf ein Storytelling fixieren, bei dem die Helden oder der Held von einem Plotpunkt zum nächsten gejagt wird und ein Problem – oder wie es heute heißt: „Background-Story“ – überwinden muss, ist eine regelrechte Plage. Die Eltern, die gestorben sind, die entlaufende Geliebte, die Misshandlung in der Kindheit – diese „Backgrounds“ werden dann als Grund für jegliches Handeln der Figur deklariert, ganz so, als könnte man die Komplexität menschlichen Handels auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen. So wird für Gravity von Alfonso Cuarón extra eine neue Technik entwickelt, die uns in den ersten Minuten atemberaubende Bilder aus dem Weltraum zaubert – nur, damit der Film dann in eine persönliche Reise der Astronautin zu sich selbst abdriftet, mit der „Background-Story“ des Todes ihrer Tochter, den sie nun überwinden muss. Der Rest des Films konzentriert sich dann auf diese tausendfacherzählte Geschichte.
Nicht falsch verstehen: Eine gute Geschichte und Figuren mit Tiefe sind natürlich essenziell für einen Film und in der Regel auch das Wichtigste – viele Filme scheitern, wenn sie diese Elemente nicht haben. Nur kann das Medium Film mehr als das: Die Bilder können auch mal nur für sich sprechen, eine Geschichte darf auch mal episodenhaft erzählt werden, Figuren können auch mal leere Hüllen sein. Ist es das Schicksal von David Bowmann, das uns in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum fasziniert? Wohl kaum. Es sind die atemberaubenden Bilder, die philosophischen Fragen, die der Regisseur aufwirft, die Inszenierung der Science-Fiction. Überzeugt uns Tenet von Christopher Nolan, weil er uns einen vielschichtigen, von Plotpunkt zu Plotpunkt huschenden Charakter zeigt? Nein, sondern weil er mit der Zeit spielt, indem er sie vor- und zurück spult, weil er uns komplexe Fragen zum Nachdenken gibt, weil der Film ein Spektakel ist. Ich wünsche mir wieder mehr Filme, die mit dem konventionellen Storytelling und der konventionellen Charakterentwicklung experimentieren und das Medium Film in seiner Gänze ausreizen.
2. Das Publikum ernst nehmen
Die Spiele von From Software sind bekannt dafür, anspruchsvoll zu sein. Auch Elden Ring knüpft an diese Tradition an. Um mehr über die Zwischenlande zu erfahren, müsst ihr zum Beispiel gefundene Dokumente entschlüsseln, Waffenbeschreibungen lesen, Dialogen lauschen, und all das analysieren. Dazu kommt, dass ihr durch die nicht-lineare Geschichte immer wieder überlegen müsst, wo ihr als nächstes in der Welt hingehen wollt. Im Vergleich zu den meisten Open World Spielen gibt es dabei keine Markierungen oder Fragezeichen auf der Karte, die euch besonders spannende Orte anzeigen. Ihr seid hier komplett auf euch allein gestellt und müsst selbst entscheiden, wo es sinnvoll ist, als nächstes hinzugehen. Gelegentlich erzählen euch Nebencharaktere oder Dokumente dabei von sehenswerten Orten – doch wo ihr jetzt zum Beispiel „Nokron, die Ewige Stadt“ findet und wo der Charakter steht, mit dem ihr sprechen sollt – nun ja, das müsst ihr schon selbst herausfinden. Daneben kommen schwierige Spielmechaniken, die ihr meistern müsst, ein extrem komplexes Charaktersystem und ein Schwierigkeitsgrad, der euch alles abverlangt. Kurzum: Elden Ring nimmt seine Spielerinnen und Spieler ernst.
Genau das wünsche ich mir auch wieder mehr im Film. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer für dumm verkauft werden. Teilweise bekommen wir die einfachste Unterhaltung vorgesetzt, bei der uns das Nachdenken komplett abgenommen wird. Der kürzlich auf Netflix erschienene The Gray Man von den Russo-Brüdern ist ein Beispiel für eine solche Farce (siehe auch meine Kritik zu dem Film). Der Film schreit dir regelrecht ins Gesicht, wen wir mögen sollen und wen nicht, was wir moralisch falsch finden sollen und was nicht, was gut und was böse ist. Mitdenken verboten. Dagegen fordert beispielsweise ein Film wie Fight Club (David Fincher) die Zuschauerinnen und Zuschauer auch beim zwanzigsten Mal Sehen heraus und liefert immer wieder neue Facetten, neue Interpretationen und neue Sichtweisen, über die wir nachdenken müssen.
Auch der Trend, alles erklärt zu bekommen, ist einer, der gerne hinterfragt werden darf. Besonders deutlich wird das, wenn man die Flut an Serien betrachtet. Ganze 11 Staffeln erzählt zum Beispiel The Walking Dead von den Geschehnissen nach einer Zombieapokalypse – anfangs noch fasziniert, wie die Welt da draußen wohl aussieht, erlischt diese Faszination mit jeder Staffel mehr. Irgendwann wissen wir nämlich alles: Wie andere Menschen leben, wie sie sich gruppieren, was sie tun, ob sie gut oder böse sind. Schließlich wird ein Punkt erreicht, an dem es nichts mehr zum Philosophieren und Rätseln gibt. Ein Film wie Lost Highway von David Lynch lässt euch dagegen erstmal komplett ratlos zurück. Vieles scheint ungeklärt, offen, nicht eindeutig. Der Film zwingt euch regelrecht, über ihn zu philosophieren und zu rätseln – darin erst entfaltet er sich. Diese Art von Filmen wünsche ich mir wieder vermehrt zu sehen.
3. Überraschen
Im Voraus ahnte man als Spielerin und Spieler nicht, was für eine Urgewalt von Spiel Elden Ring sein würde: Ein paar kurze Trailer und ein bisschen Gameplay – mehr gab es nicht zu sehen. Nichts deutete daraufhin, wie unfassbar riesig, umfangreich, komplex, virtuos dieses Spiel sein würde. From Software hat all diese Informationen vorenthalten, bzw. das Ausmaß des Spiels untergraben. Mit dieser Erwartungshaltung fängt man also an, das Spiel zu spielen – und umso länger man das Spiel entdeckt, desto mehr wird einem klar, was für eine gigantische Welt hier gezaubert worden ist. Elden Ring schafft es so, dich permanent zu überraschen. Immer wenn man denkt, dass man nun wirklich alles gesehen hat, kommt etwas Neues – selbst nach über 100 Stunden Spielzeit. Das Großartige dabei ist, wie natürlich sich diese Überraschungen in das Spiel einfügen und wie diese inszeniert werden.
Relativ zu Beginn des Spiels gehe ich zum Beispiel durch einen See und finde in einer Ruine eine Schatzkiste. Ich öffne sie und werde plötzlich von Rauch eingehüllt. Der Bildschirm wird dunkel. Ich wache schließlich auf einem gigantischen Wall einer noch gigantischeren Burg auf und vor mir steht ein Riese in Ritterrüstung, der mich natürlich töten will. Als ich auf die Karte schaue, sehe ich, dass ich kilometerweit von der Schatzkiste entfernt bin und mich in einem Gebiet befinde, dass man erst nach zig Stunden Spielzeit erreichen sollte. Irgendwie muss ich da nun raus. Diese Momente sind keine Ausnahme und immer wieder frage ich mich während des Spielens: Was passiert wohl als nächstes?
Diese Überraschungen wünsche ich mir auch wieder mehr im Film. Oft, so scheint mir, wissen wir viel zu viel. Das geht bereits bei der Ankündigung los. Mittlerweile verraten uns schon die Trailer die halbe Geschichte und um was für eine Art Film es sich handelt. In der Regel bekommt man als Zuschauerin und Zuschauer dann auch genau das im Kino zu sehen, was man erwartet hat. Wie es anders gehen kann, zeigen uns zum Beispiel die Trailer zu Nope von Jordan Peele (siehe Trailer unten). Nach dem ersten Trailer denkt man sich: „Hä?“, und nach dem zweiten Trailer denkt man sich: „Hä?“. Dennoch weckt das Gesehene Interesse. Es verrät aber eben nicht schon die ganze Geschichte oder um was für eine Art Film es geht. Das letztendliche Kinoerlebnis bleibt so eine Überraschung.
Auch in den Filmen selbst darf es wieder mehr Überraschungen geben. Wie das gehen kann, zeigt uns der Oscargewinner von 2019, Parasite, des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho. Der Film fängt als klassisches Familiendrama mit komödiantischen Elementen an. Doch dann passiert die fast schon legendäre Szene, in der die Haushälterin aufkreuzt und den Schrank in der Abstellkammer wegschiebt, hinter dem sich eine Treppe offenbart, die in einen Keller führt. Panisch stürmt sie hinunter ins Dunkle. Ohne irgendeine Vorahnung und völlig aus dem Nichts, haben wir hier eine Art Horrorthriller. Es ist auch nicht die letzte Überraschung des Films. Immer wieder wechselt Parasite die Genres, ohne sich auf eines festzulegen. Dabei spielt Bong Joon-ho permanent mit den Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer, nur erfüllen tut er sie nie. Es ist, als würde er ihnen sagen wollen: „Wenn du glaubst, du weißt, was als nächstes passiert, werde ich eh was anderes machen“. Das ist es, was wirkliche Überraschungen ausmachen und was ich wieder vermehrt in Filmen sehen möchte.
Fazit
Elden Ring ist ein Meilenstein der Videospielgeschichte. Neben den genannten Eigenschaften hat das Spiel noch zahlreiche weitere, die es zu einer ganz besonderen Spielerfahrung machen. Dabei zeigt Elden Ring dem aktuellen Film, wie er Dinge anders machen kann – drei Wünsche habe ich hierfür genannt.
Ich wünsche mir vom aktuellen Film, dass er wieder mehr mit dem konventionellen Storytelling experimentiert, mit nicht-linearen Geschichten und statischen Figuren spielt; das Medium Film in seiner Gänze ausreizt, indem er beispielsweise seine Bilder und Virtuosität in den Vordergrund stellt. Ich wünsche mir, dass der aktuelle Film sein Publikum wieder ernster nimmt und es nachdenken lässt; dass er nicht alles erklärt, sondern Spielraum zum Interpretieren, Rätseln und Philosophieren lässt. Und ich wünsche mir vom aktuellen Film, dass er dem Publikum nicht schon im Voraus alles verrät, sondern Überraschungen offenhält – am besten auch während des Sehens. Lieber Film, bitte wieder mehr davon.